Polarität der Bibel

Biblische Aussagen sind nicht gleichwertig.
a) Es gibt eine historisch-zeitliche Rangfolge: was später gesagt wurde, wiegt mehr als das, was früher galt. (Apg 15,10)
b) Der Inhalt ist grundsätzlich wichtiger als die Form (Rö 2).
c) Was mit den Qualitätsmaßstäben Christi und dem Liebesgebot übereinstimmt, gilt unmittelbar. Was nicht mit ihnen übereinstimmt, muss im Sinne dieser Maßstäbe selbständig korrigiert werden. (Vorbild: Jesu Korrektur der mosaischen Scheidungsgesetzgebung Mt 19,8)
d) Dann macht die Bibel noch eine Unterscheidung zwischen Milch und fester Speise: man kann Gläubigen, die im geistlichen Wachstum fortgeschritten sind, nicht nur mit Milch, d.h. einfachen, grundlegenden Glaubenswahrheiten versorgen, wenn man Stagnation im Wachstum vermeiden will (1.Kor 3,2 / Hebr 5,12+14). Zur festen Speise gehören auch Texte in der Bibel, mit deren Hilfe der Gläubige Urteilsvermögen trainieren soll. Damit ist natürlich auch die Möglichkeit des Missverstehens eingeschlossen bzw. die Möglichkeit, die fehlinterpretierte Bibelstelle als angeblichen „Beweis“ zu missbrauchen. Beispiel: einen Scheinbeweis für die Notwendigkeit der Selbsterlösung könnte man aus der Bibelstelle „Schaffet, dass ihr gerettet werden, mit Furcht und Zittern...“ (Phil 2,12) herauslesen. Anderes Beispiel: „doppelte Ehre“ in 1.Tim5,17 könnte man – dem Zusammenhang entsprechend – als „doppeltes Einkommen“ übersetzen. Das aber stimmt sicherlich nicht (siehe Details unter der Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut der Bibel hält, ist das beste.”). Um den Sinn zu erfassen, müssen die Auswirkungen („Früchte“ in Mt 7,16) der jeweiligen Interpretation auf das geistliche Leben untersucht werden.

Der unterschiedliche Rang biblischer Texte wird auch dadurch deutlich, dass die Bibel nicht so übersetzt wird, wie man üblicherweise ein Buch übersetzt, vom Anfang bis zum Ende. Ich möchte behaupten: es gibt keinen einzigen Bibelübersetzer, der mit der Genesis anfangen und mit der Offenbarung abschließen würde. Alle Bibelübersetzer, die einer bisher unerschlossenen Sprache die Bibel bringen, werden zuerst ein Evangelium übersetzen. Denn es ist völlig klar, wo der Kern der Botschaft (Anker) zu finden ist. Nicht ohne Grund verwendet man die Bezeichnung “Evangelium” (= gute Nachricht) auch für die gesamte Bibel. Später wird Stück für Stück der größte Teil des Neuen Testamentes übersetzt, wobei man sicherlich nicht der Reihenfolge des Inhaltsverzeichnisses einer Vollbibel folgen wird. Sehr wahrscheinlich wird ein Bibelübersetzer schon vor dem Abschluss des Neuen Testamentes Psalmen und wichtige Kapitel der Genesis (Schöpfungsgeschichte, Erzvätergeschichten) übersetzen. Für diese Arbeit braucht man sehr viel Zeit. Unter ungünstigen Umständen kann es länger als ein Jahrzehnt dauern. Hat man dann noch Zeit und Kraft, und ist nicht die Arbeit an einer neuen Sprache oder einem benachbarten Dialekt dringender geworden, wird man mit dem AT fortfahren und auch dort muss man wieder Prioritäten setzen. Eine vergleichsweise geringe Priorität werden sicherlich das Buch Leviticus (3.Mose), das Buch Ecclesiastes (“der Prediger Salomo”) oder das Hohelied haben.

Es gibt also eine ziemlich klare Rangfolge biblischer Bücher und innerhalb der einzelnen Bücher eine nachvollziehbare Rangfolge der Aussagen.

Artikel aktualisiert am 25.04.2018

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