Verfälschung von Mt 23,23 ?

Unlängst wurde ich heftig kritisiert: ich hätte die letzte Forderung Jesu in Mt 23,23 nach „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit“ falsch übersetzt und den Sinn absichtlich „verfälscht“. Das Wort πιστις habe im biblischen Kontext die Bedeutung „Treue“ oder „Glauben“, nicht aber „Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit“, wie ich übersetzte.

Zum ersten: ich bin dankbar für jede Kritik. Sie gibt Gelegenheit, sich selbst noch einmal Rechenschaft zu geben. Niemand ist gegen Oberflächlichkeit gefeit. Ich will nicht so tun, als ob ich keine Fehler einzusehen hätte. Es ist wirklich schlimm, wenn auf kritische Anfragen nicht geantwortet wird, so wie es bei etlichen bibeltreuen Institutionen üblich ist. So wollen wir uns nicht verhalten.

Dank der Kritik habe ich inzwischen eine bessere Übersetzung gefunden: „wahre Treue“  oder noch besser „Treue und Ehrlichkeit“ und diese Übersetzung auch im Detail erläutert.

Kritik ist eigentlich der Einstieg in einen Austausch. Es muss mir erlaubt sein, meine Absichten und Gründe darzulegen. Die Erläuterung dient dem Verständnis und ist keine Selbstrechtfertigung oder Bekundung der Unverbesserlichkeit.

Doch leider brach der Austausch abrupt ab. Der Gesprächspartner hatte nur den Wunsch, uns seine Position zu präsentieren, die er selber nicht hinterfragt sehen wollte.

Leider wurde der Schreiber des Mails auch noch in negativer Weise persönlich. Für meine „absichtlich falsche“ Übersetzung wurde mir das Motiv des „Eigennutzes“ und „Hochmuts“ unterstellt. Ich wäre jemand, der „zum Wort Gottes etwas dazugetan oder weggenommen“ hätte, was Offb 22,18-29 unter strenge Strafe gestellt hat.

Liebe Kritiker! Es wäre sehr nett, wenn ihr die Aufgabe, ins Herz zu schauen und finale Urteile auszusprechen, dem allweisen und allwissenden Gott überlassen könntet. Dem Austausch ist das nicht dienlich.

Da wir auf guten Stil achten, müssen wir nicht unfreundlich reagieren. Es empfiehlt sich grundsätzlich ganz sachlich zu bleiben. Der Verfasser des Emails hat offensichtlich noch nie etwas von der „freien Zitierweise“ gehört, die wir gelegentlich in der Bibel selbst finden.

Ein Beispiel: In Hebräer 10, 5 lesen wir: „einen Leib hast du mir bereitet“, während es in Psalm 40, dem diese Stelle  entnommen ist, heißt: „Ohren hast du mir bereitet“ (V. 6). Unzweifelhaft sind „Ohren“ etwas anderes als der „Leib“. Ist das ein Beispiel für „Verfälschung“ ?

Adolf Küpfer (Quelle: bibelkommentare.de) hat folgende Erklärung angeboten: „Ohne Frage redet Ps 40 prophetisch von der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Als Mensch
war Er gehorsam bis zum Tode, indem Er Seinen Leib als Opfer hingab. Das Ohr nun ist das Symbol des Gehorsams. Der Schreiber des Hebräerbriefes hat nun die Stelle aus Ps 40 sinngemäß wiedergegeben – natürlich auch unter der Leitung des Heiligen Geistes, denn ihm war der Wortlaut ohne Frage wohlbekannt. Er wollte zum Ausdruck bringen, dass der Herr Mensch wurde: „Einen Leib hast du mir bereitet“, um ihn auf dem Altar des Kreuzes hinzugeben, während: „Ohren hast du mir bereitet“ sagen will, dass Er gehorsam war bis zum Tode.“

Dies leuchtet ein. Doch halten wir einmal fest, dass der Schreiber des Hebräerbriefes die Freiheit hat, die lexikalische Bedeutung zu vernachlässigen, um die Intention des Verses zu verstärken.

Ein weiteres Beispiel. In Jes 28,16 S heißt es: „Siehe, ich lege in Zion einen Eckstein, einen kostbaren, bewährten Stein ein sicheres Fundament, wer (an ihn) glaubt, der flieht nicht.“

Wie wird diese Bibelstelle in 1.Pe 1,6 zitiert ? Dort heißt es: „In der Schrift steht: Siehe, ich lege in Zion einen kostbaren, bewährten Eckstein. Wer an ihn glaubt, soll nicht zu Schanden werden.“

Wieder eine Abweichung von der lexikalischen Bedeutung im Zitat! „Fliehen“ ist nicht dasselbe wie „Zu Schanden werden, sich Verachtung zuziehen.“ Wenn unser Kritiker recht hätte, dann müsste man hier ebenfalls von „Verfälschung“ sprechen.

(Zu weiteren Beispielen für „freie Zitierweise“ siehe: Eduard Böhl, Die altestamentlichen Zitate im NT, Wien 1978).

Wenn die biblischen Autoren mit ihrer freien Zitierweise nicht verfälscht haben, dann ist es auch Gläubigen heute erlaubt, so zu zitieren, sofern die Intention des Textes damit unterstützt wird.

Wenn jemand uns dafür kritisiert, dann muss er den Nachweis führen, warum dasselbe Verfahren Gläubigen heute nicht erlaubt ist. Ich behaupte, dass ein Beweis hier unmöglich ist. Zweifellos wird der Kritiker an seiner Sicht festhalten, aber es bleibt eben nur eine Behauptung, die zu übernehmen niemand verpflichtet ist.

Wir hatten uns für die Übersetzung „Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit“ entschieden, weil das große Problem heute unter etablierten bibeltreuen Schriftgelehrten nicht wie zur Zeit Jesu Geringschätzung der ehelichen Treue ist, sondern Unehrlichkeit, Manipulation und miese Tricks, um trotz mangelhafter Argumentation Einfluss und Macht zu behalten.

Getreu dem Worte Jesu „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mt 22,32) haben wir so übersetzt, dass der Schlüssel Mt 23,23 zur heutigen Situation passt und dennoch den Grundgedanken der „Treue“ einbezieht.

War das falsch ? Sind wir Museumswächter, die darüber wachen müssen, dass der alte lexikalische Sinn erhalten bleibt, der treffend in eine Situation hineingesprochen hat, die vor Jahrtausenden aktuell war ? Ist das die vordringliche Aufgabe der Gläubigen ?

Oder gefällt es Gott mehr, wenn wir uns darum sorgen, dass das Wort Gottes möglichst treffend in die heutige Situation hineinspricht ?

Nachdem unser Kritiker meinte, mir „Verfälschung“ nachgewiesen zu haben, wurde ich belehrt, dass Mt 23,23 „kein Schlüssel sein könne“. Der Schlüssel für richtige Auslegung sei allein die „Liebe“.

Abschließend fand er noch ein paar tröstliche Worte: Gott hätte mich trotzdem lieb und er würde mich auch nicht mit der Hölle bestrafen für den „Mist“, den ich geschrieben hätte.

Das war gut gemeint, und doch liefert er damit glanzvoll den Beweis, dass der Begriff “Liebe” als „Schlüssel“ nicht so ohne weiteres genügt, jedenfalls nicht, wenn die inhaltliche Konkretisierung mangelhaft ist.

Das ist doch genau das Problem, dass Bibellehrer, Theologen, Seelsorger unablässig von „Liebe“ reden, dass aber die tödliche Härte des biblischen Buchstabens (2.Kor 3,6), die nicht sachgemäß entschärft wird, den Eindruck der „Liebe“ ständig aufweicht.

Auch unser Kritiker kommt mit der Härte des Buchstabens nicht klar. Er ersetzt sie durch seine eigenen, gutgemeinten Trostworte. Ist das keine Verfälschung ?

Wenn ich etwas vom Wort Gottes unterschlagen und Gläubige falsch belehrt habe, dann „wird Gott mir meinen Anteil vom Holz des Lebens wegnehmen.“ So heißt es in dem zitierten Vers der Offenbarung. Wenn ich keinen Anteil mehr daran habe, dann dürfte ich wohl tot sein. Und das hätte mir der Kritiker androhen müssen. Da bleibt kein Raum für Trost. Trost ist nur dann möglich, wenn ich die Sünde der Verfälschung bereue und korrigiere.

Das ist genau das Dilemma der üblichen Auslegung. Man täuscht sich über die tödliche Härte des Buchstabens hinweg und verteilt großzügig Segnungen, die nach dem Wortlaut der Bibel gar nicht vorhanden sind oder zumindest bezweifelt werden können.

Wie soll man mit dieser Arbeitsweise destruktive Auslegung entschärfen können ? Das wortreiche Beteuern der Liebe ändert nichts daran, dass einzelne Gläubige an den Lehrsätzen giftiger Theologie zugrundegehen werden.

Somit bleiben sie in genau derselben Lage, die schon Jesus beklagte: sie bleiben draußen und kommen nicht hinein in das Reich der Freude und des Friedens, und das haben sie der werkgerechten Theologie bibelgläubiger „Schriftgelehrten“ zu verdanken, die unter den Anklage Jesu stehen (Mt 23,13): „ihr habt ihnen die Tür verschlossen“ (κλείτε).

Kann das Wort „Liebe“ ein Schlüssel sein, ein Instrument, um aus diesem Eingeschlossensein zu befreien ?

Das ist doch das eigentliche Problem, dass jedermann naiv an seine gute Absichten glaubt, sie gar für Liebe hält, nicht zuletzt die unberufenen Lehrer, die andere mit ihrer dilettantischen Theologie krank machen. Schauen wir doch einmal hinein in die lehrreiche Geschichte des Christentums. Was wurde nicht schon alles mit dem Wort „Liebe“ begründet – immer im Wahn, mit Brutalität die Seelen vor Verführung schützen zu müssen: Inquisition, Hexenjagd und nicht auch zuletzt Judenverfolgung, die selbst der große Reformator Martin Luther meinte unterstützen zu müssen. Wie viele der blutigen Akteure waren überzeugt, im Namen Jesu, in der Autorität der größten Liebe zu handeln !

Wenn die Bibel Gott mit dem Wort „Liebe“ identifiziert (1.Joh 4), so setzt sie voraus, dass sich der Leser um eine klare, widerspruchsfreie Konkretisierung dieses Begriffs bemüht. Nur dann ist „Liebe“ die größte aller Eigenschaften (1.Kor 13,3).

Diese Konkretisierung stellt Mt 23,23 bereit. So wie die Liebe Gottes das Höchste und Wichtigste ist, so ist Mt 23,23 das höchste und wichtigste Gebot. Beides hat dieselbe Priorität. Keine andere Bibelstelle kann so gut zur Konkretisierung der Liebe dienen. Sie hilft uns, zu überlegen: was ist denn Liebe und was nicht.

Liebe ist „Barmherzigkeit, Wertschätzung des Rechts, Verlässlichkeit“ (Mt 23,23). Selbst bei diesen Begriffen müssen wir noch einmal genau prüfen und unterscheiden: ist es echte Barmherzigkeit oder eingebildete Barmherzigkeit, ist es echte Liebe zum Recht oder nicht, ist es tatsächlich die Treue und Wahrhaftigkeit, die Jesus meinte.

Wenn wir hier genau prüfen, dann kann mit Hilfe von Mt 23,23 giftige Theologie sehr leicht entschärft werden, wie diese Webseite zeigt.

Ich vermute sehr stark, die etablierte bibeltreue Theologie kann das nicht. Oder sollte ich mich irren ? Jedenfalls kam bisher auf den von uns vorgelegten Seelsorge-Kompetenztest, der typische Notsituationen präsentiert, keine Antwort. Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Es ist erschreckend, wie schnell und leichtfertig unter bibeltreuen Christen überflüssiger Streit, Spaltung und Distanzierung entstehen. Die Ursache dafür ist, dass man sich zum Anwalt Gottes berufen fühlt, der die Rechte Gottes zu verteidigen hat. Alles im Namen der Liebe, obwohl der Wunsch Recht zu behalten, viel wichtiger genommen wird als die Liebe und der Respekt vor dem anderen und vor seinem mühevollen Ringen um Klarheit.

Ein Mensch als Anwalt Gottes ? Ist das nicht eine Selbstüberschätzung ? Wäre es nicht besser, man würde von sich bescheidener denken ? Niemand ist gegen Oberflächlichkeit, Einseitigkeit und Irrtum gefeit. Nicht jeder versteht alles sofort. Und jeder bringt durch seine Biografie wertvolle Einsichten ein, die der andere, dem entsprechende Erfahrungen fehlen, nicht hat. Die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen erweitern nicht nur die Sicht, sondern sie begrenzen sie auch. Niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefressen. Auch die Tradition stellt keine unfehlbare Weisheit bereit.

Unser Kritiker war, nachdem er mir das Etikett „Fälscher“ umgehängt hat, an einem weiteren Austausch nicht mehr interessiert. Wie es scheint, stand für ihn damit fest, dass unsere Webseite nur „Mist“ enthalten konnte und des weiteren Lesens nicht wert war.

Ich kann es nirgends in der Schrift finden, dass Gott Gläubige authorisiert, in dieser Weise mit der geistigen Arbeit anderer umzugehen. (Eine dazu passende Satire ist die Geschichte von Ephraim Kischon: „Wie man ein Buch bespricht, ohne es zu lesen.“) Wenn uns der Apostel auffordert, „alles zu prüfen“ (1.Thess 5,21), so mutet er uns damit zu, auch Texte zu lesen, in denen manches steht, was uns stört, was wir für mangelhaft oder falsch halten. Das Mangelhafte oder Falsche brauchen wir ja nicht zu übernehmen. „Das Gute behaltet…“ heißt es. Wenn man sich nur mit Texten befassen will, die nirgends stören oder provozieren, dann gibt man Betriebsblindheit und Selbstgerechtigkeit eine große Chance und muss sich nicht wundern, wenn man Jahrzehnte später nur wenig dazugelernt hat.

Haben Jesus und die Apostel zu ihrer Zeit sich etwas bemüht, so zu formulieren, dass um Gottes willen niemand Anstoß nimmt oder gar provoziert wird ? Haben sie auf theologische Empfindlichkeit je Rücksicht genommen ?

Handeln wir wirklich im Sinne Jesu, wenn wir von Christen erwarten, dass sie mit ihren Texten auf theologische Empfindlichkeit Rücksicht nehmen sollen ?

Was ist aus der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Rö 8,21) geworden, wenn Gläubige nicht einmal die Freiheit haben, in Ruhe über neue Anregungen nachzudenken, abzuwägen und sich auszutauschen, sondern sich bei der geringsten Unstimmigkeit sofort eins mit der Bibel über den Schädel geben müssen ? Für viele weltliche Menschen ist eine faire Gesprächskultur völlig selbstverständlich. Viele Gläubige sind leider noch weit davon entfernt und man fragt sich, ob sie jemals dieses Niveau erreichen werden.

Um überempfindlichen Mitchristen doch ein Stück weit entgegenzukommen (nach 1.Kor 9,19), habe ich mich entschlossen, die dritte Forderung Jesu in Mt 23,23 mit „Treue und Ehrlichkeit“ zu übersetzen. Damit sind sowohl der lexikalische Sinn als auch die Erfordernisse der aktuellen Situation berücksichtigt.

Artikel aktualisiert am 25.04.2018