Selbsterkenntnis

Die Fähigkeit zu realistischer und gründlicher Selbsterkenntnis wird als das erste Werk des Heiligen Geistes bezeichnet, der “von Sünde, Gerechtigkeit und Gericht überzeugt.” (Jo 16,8) Eine ungeschönte Diagnose ist die beste Voraussetzung gründlicher Heilung und Befreiung der Seele.

So mancher Mensch erkennt den Wert dieser Diagnose nicht. Wenn es indes um seine körperliche Gesundheit geht und der Verdacht auf eine schweren Erkrankung im Raum steht, dann ist er mit einer oberflächlichen Untersuchung gewöhnlich nicht zufrieden und wünscht sich Gründlichkeit.

Warum denkt er dann über das Böse in seiner Seele und in seinem Leben nur oberflächlich nach?

Damit ist natürlich das objektiv Böse gemeint und nicht das vermeintlich Böse, das durch machtbesessene Theologen konstruiert wird und das Gewissen überflüssigerweise belastet. (Giftige Theologie).

Infolgedessen erscheint selbst das objektiv Böse ihm sehr klein und unbedeutend im Vergleich zu seinen guten Absichten und Taten, deren Wert er sehr hoch ansetzt. Gutes und Richtiges, das nicht getan wird, obwohl es leicht möglich wäre (Jak 4,17), erscheint ihm überhaupt nicht als Fehlverhalten.

Auf diesem Boden gedeiht wenig Gutes: die Selbstzufriedenheit, der Selbstbetrug, die Selbstgerechtigkeit sowie die Heuchelei und das Pharisäertum.

Selbstgerechten Menschen verschließt sich die Bibel schnell: sie bleibt stumm („Selbstverstärkung„)

Das Bemühen um Selbsterkenntnis verbessert das Urteilsvermögen erheblich, da die Verzerrung der Sicht durch eigene Rechtfertigungsversuche vermieden wird.

Auch in dem bemühtesten Gläubigen “steckt eine ganze Hölle”. Doch der Gläubige muss sich mit dem Bösen in ihm nicht identifizieren und nicht verzweifeln. Er hat mit dem Heiligen Geist eine neue Natur geschenkt bekommen, die sein eigentliches Wesen bildet und im Gegensatz zur alten, sündigen Natur ewig fortbesteht.

Das Vertrauen auf die Gnade Gottes und die Reaktion der Liebe und Dankbarkeit eröffnen die Möglichkeit, im Einklang mit der neuen Natur, die dem Gläubigen geschenkt wird, und im Gegensatz zur alten, sündigen Natur zu handeln.

Gründliche Selbsterkenntnis hilft dazu, mit den Fehlern der Mitchristen gelassen umzugehen. Korrektur muss sein, doch sie soll mit “sanftmütigem Geist” geschehen (Ga 6,1), in der Erkenntnis, dass alle ausnahmslos durch Sünde in Versuchung geraten können.

Ein Gläubiger, der sich selbst um gründliche Selbsterkenntnis bemüht, macht es dem Mitchristen, den er korrigiert, leicht, notwendige Korrektur anzunehmen.

Der im Glauben gereifte Gläubige erkennt Selbsterkenntnis als wertvoll. Sie wirkt langfristig aufbauend und stabilisierend, da sie vor charakterlichen Fehlentwicklungen, unnötigen Konflikten und Schäden vielerlei Art bewahrt. Das vorübergehende Unbehagen, dass sie erzeugt, fällt diesem Nutzen gegenüber nicht ins Gewicht. Dieses Unbehagen wird zudem umso kleiner, je häufiger der Gläubige Selbstkritik übt.

Gläubige, die das vorübergehende aber äußerst fruchtbare Unbehagen („Reifungsschmerz“) meinen nicht ertragen zu können, entwickeln eine unangemessen hohe Meinung von sich selbst. Um diese Meinung zu stützen, spielen sie eigene Fehler herunter und betonen stets nebensächliche Punkte, in denen sie einigen Gläubigen überlegen sind. (Nebenprodukt Narzissmus) Ihre Kritik ist von vornherein dialogfeindlich (“moralischer Knüppel”), damit auf keinen Fall eigenes Versagen zur Sprache kommt. Kritik hat nur einen Zweck, dem anderen moralische Überlegenheit zu demonstrieren und die eigene Haltung der Selbstzufriedenheit – die man eher Unverbesserlichkeit nennen müsste – zu stärken.

Dadurch werden viele Beziehungen in der Familie und in der Gemeinde sehr schnell und leichtfertig zerstört. Da der selbstzufriedene Moralist aber nicht vereinsamen will, sammelt er eine kleine Gruppe von Gleichgesinnten um sich, die wie er auf dieselben nebensächlichen Punkte Wert legen und sich naserümpfend von allen anderen in der Gemeinde absondern, die ihre Ansichten nicht teilen. Solche Gruppen machen durch z.T. auffallend dumme Urteile, Beschimpfungen und Verleumdungen andersdenkender Geschwister ständig auf sich aufmerksam.

Es hat keinen Zweck, Angehörige der Gruppe auf ihr bösartiges Verhalten hinzuweisen, da sie sich als über jeder Kritik stehende “Lichtgestalten” ansehen bzw. glauben, dass der gute Zweck der Gruppe, für die “Reinerhaltung des Glaubens” zu kämpfen, nahezu jedes Mittel rechtfertige.

Wer Unfrieden in die Gemeinde hineinträgt, vergiftet das friedliche Miteinander und die Bruderliebe auf lange Sicht. Vielen ist nicht bewusst, dass die Apostel dieses Verhalten als eine ähnlich schwere Sünde wie Hurerei angesehen haben: “Was unsere Natur hervorbringt, ist offensichtlich: sexuelle Unmoral, Unsittlichkeit und Ausschweifung, Götzendienst und Zauberei, Feindseligkeit, Streit und Eifersucht, Zornausbrüche, Intrigen, Zwistigkeiten und Spaltungen, Neidereien, Sauforgien, Fressgelage und ähnliche Dinge. Ich warne euch, wie ich das schon früher getan habe: Wer so lebt, wird in Gottes Reich keinen Platz haben.” (Gal 5,19-21 / NeÜ)

 

Artikel aktualisiert am 28.09.2022

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