Psychotherapie und Religion

Die religiöse und spirituelle Dimension ist zunächst in der wissenschaftlich-psychiatrischen Forschung der letzten 150 Jahre stark vernachlässigt worden. Im späten 19.Jahrhundert hatten Jean Charcot und Sigmund Freud begonnen, Religion mit Hysterie und Neurose zu assoziieren. Damit begann eine Separation des religiösen Erlebens vom psychiatrischen Gesundheitswesen. (Bonelli, Religiosität in der Psychiatrie, S.86) Nachdem religiöse und spirituelle Themen viele Jahre tabuisiert (Kaiser 2007) und polemisch abgewertet wurden (Buggle 2004), markieren wegweisende religionspsychologische Veröffentlichungen der letzten Jahre einen bemerkenswerten Richtungswechsel. Mittlerweile sind auch im säkularisierten Deutschland zahlreiche Arbeiten verfasst worden, die therapeutische Potenziale und Ressourcen einzelner Religionen im Kontext einer psychotherapeutischen Schule darstellen. (Utsch, Religiosität und Spiritualität in den psychotherapeutischen Schulen, S 68-69) Gleichwohl ist immer wieder ein Unbehagen zu verzeichnen, sich auf religiöse Fragen in der Psychotherapie einzulassen. Religion berührt die tiefsten Bereiche der Seele und hier ist nicht nur der Patient, sondern auch der Therapeut verletzlich. Es besteht die Gefahr, dass er nun seinerseits verletzend reagiert (Gegenübertragung), dass er unsachlich wird, gar auch anerkennenswerte Gedanken des Patienten abwertet, um sich nicht selbst in Frage gestellt zu sehen. (Bonelli, Das psychotherapeutische Unbehagen mit der Religion, S.50)

Als Beispiel für diese Denkweise mag das Buch „Tödliche Lehre“ von Wendell Watters dienen, der dem Christentum wieder und wieder vorwirft, zu Unrecht Schuldgefühle zu erzeugen. Das trifft jedoch nur für den Fall eines „buchstabenhörigen“ Bibelverständnisses zu. Es gibt viele Christen mit einer ganz anderen Sichtweise der Bibel. Die Glaubwürdigkeit leidet zusätzlich, wenn man die Bibel nur oberflächlich kennt. So schreibt er, dass das Christentum den Zorn zur Sünde erklärt und dadurch die Aggression der Gläubigen auf ungesunde Weise nach innen gerichtet habe. (1992, S. 22, 64, 93) Bevor man eine solche Behauptung aufstellt, empfiehlt es sich, eine Wortkonkordanz zur Hand zu nehmen, und unter den Stichworten „Zorn“, „zürnen“, „zornig“ usw. nachzuschauen. Dann stößt man sehr schnell auf diesen Satz: „Wie viel guten Willen zeigt ihr jetzt, wie bereitwillig habt ihr euch entschuldigt, und wie sehr bemüht ihr euch zu beweisen, dass ihr euch nicht mitschuldig machen wollt! Jetzt seid ihr über das Vorgefallene zornig. … Eure Entschlossenheit hat dazu geführt, dass der Schuldige bestraft wurde. Ihr habt damit bewiesen, dass euch in dieser Sache keine Schuld trifft.“ (2.Kor 7,11) Über Unrecht darf – ja muss – der Gläubige zornig sein. Die Propheten waren zornig darüber. Jesus war zornig (Jo 11,33) Er warf die Tische der Geldwechsler im Tempel um und trieb sie hinaus (Jo 2,14-17) Petrus reagierte später ähnlich (Apg 8,18-23) Warum ignoriert Watters das Gebot: „seid zornig, aber sündigt nicht“ ? (Eph 4,26). Hier ist doch deutlich zu erkennen: nicht der Zorn ist verboten, sondern der Exzess, in dem der Zorn in destruktiven Hass, in Feindschaft, in Rachsucht umschlägt. Davor soll der Gläubige bewahrt bleiben. Wer noch weiter sucht, erfährt, dass die Märtyrer Gott anflehen, sie zu rächen, und dass Gott ihnen diesen Wunsch überhaupt nicht übel nimmt. (Offb. 6,10)

Dennoch sind die Argumente von Dr. Watters nicht ohne Wert, da sie die Möglichkeit von destruktiven Missverständnissen sowie den Spielraum für den Missbrauch von Bibeltexten erkennen lassen.  Indes reichen sie für eine finale Beurteilung des christlichen Glauben nicht aus. Wer ein Urteil über den christlichen Glauben fällen will, sollte die Grundregel der Bibelauslegung, die auch ziemlich allen buchstabenhörigen Gläubigen bekannt ist, beachten:  „Andererseits steht auch geschrieben“ (Mt 4,7) Wenn man anklagt, dann muss man – so gebietet es die Fairness – auch nach entlastenden Argumenten suchen.

So ist auch die Frage zu stellen, ob Schuldgefühle immer negativ zu sehen sind, wie es das Buch „Tödliche Lehre“ suggeriert. Die französische Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen analysiert in ihrem Bestseller „Die Masken der Niedertracht“ (2009) narzistische und perverse Mechanismen, die von notwendigem Schuldbewusstsein abgekoppelt sind. Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein „schlechtes Gewissen“ können demzufolge Zeichen für psychische Gesundheit sein. (Bonelli, Schuldgefühle, Psychotherapie und Beichte, S.104) Wieder muss also differenziert werden: zwischen pathologischen und zwischen berechtigten Schuldgefühlen, die den notwendigen Anstoß zur Korrektur einer asozialen Verhaltensweise geben.

Sinnfindung kann religiös oder nicht religiös erfolgen. Die weltanschauliche Sicht ist aber nicht nach Belieben austauschbar, sondern eng mit der individuellen Sozialisation und Biografie verbunden. Es ist sinnvoll, sie als „kulturelle Festlegung“ zu betrachten (vgl. Pfeifer Hochreligiöse Patienten in der Psychotherapie, S.101), die dem therapeutischen Handlungsspielraum dehnbare (!) Grenzen setzt, Grenzen, die umso flexibler sind, je besser die therapeutische Argumentation an die Werte des religiös-kulturellen Systems anknüpfen kann. Für die orthodoxe Psychotherapie war ein hochreligiöser Patient nicht therapiefähig, bevor er nicht seinen Glauben aufgab. (Utsch, Religiosität und Spiritualität in den psychotherapeutischen Schulen, S.74. ) Dieser fragwürdige Ansatz ignorierte nicht nur die stabilisierenden Ressourcen des Glaubens. Er war hochgefährlich, denn er konnte nicht dafür garantieren, dass der Patient nicht im Niemandsland zwischen der säkularen und religiösen Welt hängenbleibt und fortan von der Angst gequält wird, als „Abgefallener“, als „Judas“ unwiderruflich der ewigen Verdammnis verfallen zu sein. (vgl. Hebr 6,4-8) Der religiös geprägte Patient und die Religion lassen sich gewöhnlich nicht trennen; so wie manche siamesischen Zwillinge nicht getrennt werden können, mag der Anblick auch noch so deprimierend sein.

Selten passt der Satz so gut wie hier: „Weniger ist mehr!“ Es ist besser, dem Patienten die Möglichkeit zu geben, kritisches Denken auf der Basis seines eigenen Wertesystems zu entwickeln. Er kann dann auch wertvolle Überzeugungsarbeit innerhalb seiner religiösen Glaubensgemeinschaft leisten.

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Quellen:
Bonelli, Raphael M., Religiosität in der Psychiatrie – Zum aktuellen Wissenstand
Bonelli, Raphael M., Das psychotherapeutische Unbehagen mit der Religion
Bonelli, Raphael M., Schuldgefühle, Psychotherapie und Beichte
Pfeifer, Samuel, Hochreligiöse Patienten in der Psychotherapie
Utsch Michael, Religiosität und Spiritualität in den psychotherapeutischen Schulen
Diese fünf Aufsätze sind entnommen aus:
Utsch, Bonelli, Pfeifer, Psychotherapie und Spiritualität, Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen, Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 2014.

Sonstige Verweise:
Buggle, F., Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann, Rowohlt, Reinbek, 2004.
Hirigoyen Marie-France, Die Masken der Niedertracht, dtv, München 2009.
Kaiser, Peter, Religion in der Psychiatrie, Eine unbewusste Verdrängung, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2007.
Watters, Wendell, Tödliche Lehre, Angelika Lenz Verlag, Neustadt, 1992.

 

Artikel aktualisiert am 25.04.2018

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