Gutes und weniger Gutes im Hohelied

Das Hohelied, oder auch das Lied der Lieder genannt, handelt von der liebevollen Beziehung zwischen Mann und Frau und von der Freude an der Sexualität. Mancher Christ, der in erster Linie das Neue Testament kennt, ist erstaunt, einen solchen Text in der Bibel zu finden. Und doch sind viele Gläubige froh, dass es das ein Lied über die Freude an der Sexualität in der Bibel gibt.

Es ist auffällig, dass das Neue Testament das Thema der Freude an natürlichen Dingen, an der Natur, am Humor, an künstlerischem Schaffen oder gar an Sexualität völlig ausblendet. Die christliche Theologie, die eine barmherzige, lebensfreundliche Einstellung als zweitrangig betrachtete und sich nur am Wortlaut des Neuen Testamentes orientierte, hat über Jahrhunderte eine verhängnisvolle Richtung genommen. Hatte Jesus nicht gesagt: „wer eine Frau ansieht ihrer zu begehren, hat in seinem Herzen schon die Ehe gebrochen“ (Mt 5,28), steht schon mit einem Bein in der Hölle? Der Kirchenlehrer Augustinus zog daraus den Schluss, dass schon allein das sexuelle Begehren eine schwere Sünde sei. In der Folge wurde die Frau stark abgewertet, denn sie war es ja, dem Mann zum Fallstrick wurde und ihn in Versuchung brachte, eine Todsünde zu begehen. Genaueres Bibellesen hätte diesen Irrtum vermieden. Das griechische Wort für „begehren“ wird in der griechischen Ausgabe des Alten Testamentes („Septuaginta“) auch in den 10 Geboten verwendet mit der Bedeutung, „besitzen wollen“. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Knecht, Esel.“ (2Mo 20,17) Nicht das “Begehren” an sich ist böse, denn es ist sehr wohl erlaubt, eine Frau für sich, ein Haus für sich und einen Esel für sich zu begehren und zu erwerben. Das Böse besteht darin, dass sich das Begehren auf etwas richtet, was einer anderen Person gehört, die ihr Eigentumsrecht geltend macht. Jesus spricht hier also über die fahrlässige Anbahnung eines konkreten Rechtsbruchs, nicht über sexuelle Phantasien, die um ihrer selbst willen genossen werden. Somit wäre Mt 5,28 besser übersetzt: „wer eine verheiratete Frau habgierig anblickt und sie besitzen will…“

Mit Schuldgefühlen eingeschüchterte Menschen sind in der Defensive und lassen sich leichter beherrschen. Der Klerus hat es verstanden, Sexualität als ein notwendiges Übel erscheinen zu lassen und die Freude daran auf geradezu raffinierte Weise immer weiter zu vergiften. (siehe Gift Nr. 1) Das Verbot der Empfängnisverhütung, das für Priester vorgeschriebene Eheschließungsverbot (Zölibat), die Verteufelung der Masturbation, die immer wieder Menschen in verfrühte Ehen mit ungeeigneten Ehepartnern hineingetrieben hat, nur um ihren Trieb legal entsorgen zu können, …. wieviel vermeidbares Leid haben die Vertreter des Glaubens mit ihrem rigoristischen Eifer für die „Reinheit“ über Jahrhunderte angerichtet!! So mancher Christ hätte sich ein weitaus größeres Gegengewicht zur Leibfeindlichkeit gewünscht, als es in der Bibel zu finden ist. Wenn Christen hätten überlegen dürfen, was Jesus als liebevoller Mensch sehr wahrscheinlich dazu gesagt hätte, ohne dass es aufgeschrieben wurde (siehe Joh 21,25) sehr wahrscheinlich hätte es dann ein besseres Gegengewicht gegeben.

Und doch ist auch die Sexualität nicht unproblematisch, so wenig wie das Hohelied. Auch hier ist es wichtig, wieder genau und nicht oberflächlich zu lesen.

Das Hohelied lässt sich unter die  „no-comment“ Texte einordnen, Texte ohne beigefügte Bewertung, weil sie vom Leser geliefert werden soll.

Salomo und Sulamith – sogar im Namen scheinen sie gut zueinander zu passen. Salomo ist bis über beide Ohren in Sulamith verliebt. Er lobt sie und preist ausgiebig ihre vielen Vorzüge  – ihre Stimme, ihre Figur (2,17), ihre Augen, Haare, Zähne, Lippen, Schläfen und ihren Hals (4,3 ff).  Besonders die weiblichen Brüste haben es ihm sehr angetan. (4,5 / 7,4 / 7,9 / 8,8 / 8,10). Sie können ihm offenbar nicht groß genug sein. („Türme“ (8,8)). Es sollte auffallen, dass er nur Äußerlichkeiten an seiner Partnerin lobt.

Ganz anders wird im Buch der Sprüche verfahren: im letzten Kapitel werden hauptsächlich charakterliche Vorzüge der Ehefrau gelobt: Fleiß, Tüchtigkeit, Freigebigkeit, Barmherzigkeit, guter Geschmack, Würde und Freundlichkeit. Welche Feststellung: „sie erweist ihm Gutes und nichts Böses ihr Leben lang!“ ‚(Spr 31,12) Was für eine Frau! Wer würde sich nicht so einen Menschen an seiner Seite wünschen! Und ihr Mann antwortet ihr: „Es gibt wohl viele gute und tüchtige Frauen, aber du übertriffst sie alle!“ (Spr 31,29) Das ist wahrlich eine gesegnete und beneidenswerte Partnerschaft! Doch ist dieser lesenswerte Text nicht von Salomo verfasst, sondern vom unbekannten König Lemuel, der sie – man höre und staune – als das Wichtigste von seiner Mutter lernte (Spr 31,1). Weise Räte haben diesen Text hinten an die Sprichwortsammlung von Salomo angehängt, der zu einer gelingenden Partnerschaft vergleichsweise wenig Schlaues zu sagen wusste. Das Lob seiner Weisheit (1Kö 5,9ff) gilt wohl eher seinen intellektuellen und diplomatischen Fähigkeiten.

Aus einem anderen Text, in dem der altgewordene Salomo auf sein Leben zurückblickt, erfahren wir, dass Sulamith für ihn wohl doch nicht so großartig war, wie er es im Hohelied behauptet, dass sie jedenfalls bald für ihn eher eine Enttäuschung war. So schreibt er: „Ich war ständig auf der Suche – ohne Erfolg: unter tausend habe ich einen einzigen Mann gefunden, (der mir kostbar war) aber eine Frau habe ich unter diesen allen nicht gefunden.“ (Pred 7,28) Die „Royal Press“ teilt uns mit, dass Salomo tatsächlich im Laufe der Zeit 1000 Frauen ansammelte, 700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen. (1.Kö 11,3) Wo ist hier Sulamith einzuordnen? „Sechzig Ehefrauen sind schon da, und achtzig Nebenfrauen, auch warten noch Jungfrauen ohne Zahl: aber ich liebe nur die eine, die mein Täubchen ist, meine Vollkommene.“ (Hl 6,8-9)  Bei den 60 in den Rang der Ehefrau erhobenen Frauen handelt es sich möglicherweise um die Töchter der zahlreichen Stadtkönige, mit denen aus politischen Gründen eine Liaison eingegangen wurde. Außerdem sind bereits weitere 80 Nebenfrauen akquiriert,  die für sexuelle Dienste zur Verfügung stehen. Dazu hält sich noch eine viel größere Zahl von Jungfrauen am Hofe auf, die offensichtlich noch nicht von der königlichen Buchhaltung erfasst wurden.  Sulamith befindet sich also in der chronologischen Rangfolge auf Platz Nr. 141. Aber sie ist natürlich jetzt die Favoritin des Königs, die „gefühlte Nr 1“, die auf ihn den stärksten Reiz ausübt.

Die Frage, die sich mir stellt, wie sieht denn eine Ehe mit 1000 Frauen praktisch aus? Ist das nicht für die Frauen sehr frustrierend? Wie sieht z.B. das Sexualleben aus? Damit jede Frau einmal im Jahr Freude an Sex haben konnte, müsste der „der königliche Bulle“ jeden Tag morgens, mittags und abends mit einer anderen Frau ins Bett gehen. So käme wenigstens jede Frau einmal im Jahr dran – vielleicht zu ihrem Geburtstag. Dann aber ist zu berücksichtigen, dass etliche Frauen die Töchter von Königen waren, die aus politischen Rücksichten geheiratet worden waren. Diese Frauen hätten sich eine derartige Vernachlässigung sicher nicht gefallen lassen. Salomo musste sie deutlich bevorzugen, wenn er ernste politische Krisen vermeiden wollte. So blieb für Frauen, die nicht aus politischen Gründen geheiratet worden waren, noch viel weniger übrig: vielleicht alle zwei oder drei Jahre ein einziges Mal Sex. Ansonsten mussten sie verzichten. Ihr Bedürfnis nach Sexualität konnte auch nicht von Hofbeamten kompensiert werden. Das war viel zu gefährlich, denn wenn auf diese Weise ein Kind entstanden wäre, hätten sich damit Herrschaftsträume und – ansprüche verbinden können. (2.Sam 3,7). So mussten alle Frauen, solange sie vom König nicht in sein Bett gerufen wurden, eingeschlossen und bewacht werden. Dazu hatte der König ja Militär. Man kann sich vorstellen, welche Eifersüchteleien, welche Intrigen, welche Enttäuschungen tagtäglich das Klima im Harem vergifteten. Eine emotionale Hölle, gegen die das schlimmste Dschungelcamp ein wahrer Erholungsurlaub sein dürfte.

Es stellt sich hier die Frage, welche Frau so dumm ist, sich für diese Art Leben herzugeben. Denn eine Frau von so erlesener Schönheit, dass sie das Interesse des verwöhnten Königs geweckt hätte, hätte doch gute Chancen, sich mit einem hochrangigen Beamten oder Großkaufmann verheiraten zu lassen und mit ihm echte Partnerschaft zu genießen. Dies führt zur letzten traurigen Folgerung: natürlich gibt sich keine Frau, wenn sie nur etwas Verstand hat, zu dieser Existenz her. Deswegen gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder es gelingt dem König, einer Frau weiszumachen, dass er alle übrigen Frauen nur aus politischen Gründen geheiratet hat und sie die einzig wahre Liebe für ihn ist (diese Strategie könnte im Fall Sulamith zutreffen), oder er lässt seine Beamten kriegsgefangene Frauen auf Sklavenmärkten in Massen zusammenkaufen.

Warum das Hohelied in der Bibel steht? Was könnte denn die spirituelle Aufgabe des Hoheliedes sein? Es sind wenige Verse, die aus dem Loblied auf die von Salomo begehrte Frau herausragen. Dass echte Liebe nicht mit Geld aufzuwiegen ist (Hoheslied 8,6-7), wird wohl jedem Gläubigen einleuchten. Doch wieviel verstand Salomo davon, der zahllose Frauen lebenslang und allzu oft gegen ihren Willen in seinen Harem einsperrte? In seiner Warnung, dass „die kleinen Füchse zu fangen sind, die den Weinberg verderben“ (Hoheslied 2,15) kann man eine Aufforderung sehen, sorgfältiger auf Kleinigkeiten zu achten, die die Harmonie einer Beziehung – zum Partner oder gar zu Jesus – stören könnten. Doch ist hier diesem Vorhaben nicht das Wort Jesu vom „Mücken aussieben und Kamele verschlucken“ (Mt 23,24) entgegenzuhalten? Dass der anspruchsvolle Genießer und Frauenverbraucher Salomo, der die Berufung zum König des Gottesvolkes zu einer Art Phallokratie degenerieren ließ, nun gläubigen Christen ins Gewissen reden soll – dieser Anspruch ist doch grotesk!

Meines Erachtens ist es eine Geschichte, die Gläubige lehren soll, genau zu beobachten und sich durch eine fromme Fassade nicht blenden zu lassen. Natürlich ist es schön, verliebt zu sein, Schönheit, Ästhetik, Farben, Formen und Düfte zu genießen. Gott hat es geschaffen und gönnt es uns von Herzen. Vielleicht war Sulamith auch eine Zeitlang damit richtig glücklich – bis Favoritin Nr 142 auftauchte. Doch damit die Emotionen bleiben, reicht das, was uns Salomo als Ratschlag gibt, nicht aus. In dieser Sache war König Lemuel doch viel klüger als er.

Artikel aktualisiert am 26.11.2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert