Ist die Irrtumslosigkeitsdoktrin der wirksamste Schutz vor Bibelkritik ?

Sollte die Lehre der Irrtumslosigkeit alternativlos sein, d.h. das einzig erlaubte Schriftverständnis sein, um besser vor Unglauben zu schützen ?

Die Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel wird der Gemeinde sehr oft als die für einen Gläubigen einzig mögliche und erlaubte Denkmöglichkeit präsentiert. Sie beansprucht, der wirksamste Schutz vor glaubenszerstörender Bibelkritik zu sein.

Der Glaube kann ein wackliges Fundament nicht gebrauchen. Gläubige brauchen Schutz vor materialistisch-atheistischer Bibelkritik. Das ist wahr. Doch schützt die Lehre von der Irrtumslosigkeit tatsächlich am besten vor Unglauben ?

Bevor wir uns mit dieser Frage befassen, ist festzustellen, dass unabhängig von dieser Frage die Glaubwürdigkeit der Bibel bereits auf drei beobachtbaren zuverlässigen Tatsachen beruht: auf ihrem überzeugendem Rettungskonzept, auf ihrer diagnostischen Kompetenz und ihrer charakterverändernden Kraft. Der Gläubige kann diese Kraft ganz praktisch erfahren, indem er geistliche Übungen fleißig und treu praktiziert.

Auf dieser Basis können wir uns in der folgenden Untersuchung eine ganze Menge Gelassenheit und Objektivität leisten.

Sicher erspart die Irrtumslosigkeitslehre dem Gläubigen, sich mit problematischen Bibelstellen zu befassen. Die Frage der Klärung wird auf später verschoben, an Gott selbst abgegeben. So kommt auf einfachste Weise – ohne jeden gedanklichen Aufwand – eine schnelle und starke Beruhigung des Denkens zustande – was die Irrtumslosigkeitslehre attraktiv macht.

Gläubige lesen die Bibel ohne hin selektiv. In erster Linie gilt das Interesse den Verheißungen für den Gläubigen, wichtigen Grundwahrheiten und Prinzipien, schützenden Ordnungen, sowie Gottes Plan mit seinem Volk in der Geschichte. Die Betrachtung problematischer Bibelstellen dagegen hat keinen „Nährwert“

Die Frage also: schützt die Lehre von der Irrtumslosigkeit tatsächlich am besten vor Unglauben ?
Ist sie am besten geeignet, Glaubensgewissheit und Glaubensfreude zu verteidigen?

Leider kann man hier kein eindeutiges „Ja“ als Antwort geben.

  1. Wer die Fehlerlosigkeit der Bibel behauptet, muss ethische Widersprüche völlig ausblenden
  2. Wer die Fehlerlosigkeit der Bibel behauptet, verstößt vorsätzlich gegen den Grundgedanken der Evangelisten als ehrliche Augenzeugen zu berichten
  3. Wer die Fehlerlosigkeit der Bibel behauptet, macht sich mitschuldig an Glaubenskrisen, psychischer Schädigung und Glaubensverlust

Um die Irrtumslosigkeitsdoktrin plausibler erscheinen zu lassen, wird viel Aufwand in die Klärung formaler Unstimmigkeiten (z.B. widersprüchliche Orts- und Zeitangaben) gesteckt. Auf diese Weise wird der Eindruck erzeugt, dass sich „die meisten“ Widersprüche auflösen lassen und nur ein „kleiner Rest“ ungeklärter Fehler übrigbleibt.

Die Frage, ob Fehlerlosigkeit als plausible Eigenschaft der Bibel angenommen werden kann, hat jedoch nichts mit dem quantitativen Verhältnis von geklärten und ungeklärten Problemen zu tun. Selbst wenn 99% aller Widersprüche sich klären ließen, und es wäre ein einziger Fehler oder Mangel nachweisbar, wäre die Irrtumslosigkeitsdoktrin widerlegt.

In der Tat bereitet es keine Schwierigkeit, eine Liste von Aussagen anzufertigen, die jedem unvoreingenommenen Leser als höchst mangelhaft erscheinen.

Der hohe Anspruch dieser Doktrin hat deshalb ein ambivalentes Ergebnis:  er liefert beileibe nicht nur Sicherheitsgefühle, sondern auch zugleich Gefühle der Bedrohung und Unsicherheit.

Ist nun der „kleine Rest“ tatsächlich als inhaltlich unbedeutend anzusehen?

 

 

1: Wer die Fehlerlosigkeit der Bibel behauptet, muss ethische Widersprüche völlig ausgeblenden

Die gravierendsten Widersprüche in der Bibel finden sich leider nicht in widersprüchlichen Orts- und Zeitangaben, sondern in etlichen ethisch problematischen Bibelstellen, die sehr negative Rückschlüsse auf den göttlichen Charakter nahelegen. Diese Wirkung kann die Beziehung zu Gott erheblich belasten und Glaubensfreude ersticken.

Dennoch wird der „kleine Rest“ von Vertretern der Unfehlbarkeitsdoktrin von vornherein – ohne näheres Hinsehen ! – als inhaltlich unbedeutend abgetan. Wer doch hinsieht und erkennt, wie sich manche Gläubige damit zeitlebens herumquälen, dass sie insbesondere den fundamentalen Satz „Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis“ (1.Joh 1,5) in Frage gestellt sehen, der wird keinesfalls von einem „unbedeutenden Rest“ sprechen. Das tun wirklich nur die, die sich partout weigern, sich mit Details zu befassen.

Die angeführten „Beweise“ der „Unfehlbaren“ sind höchst seltsam. Als „Beweis“ wird eine philosophische Konstruktion verwendet: nur wenn die Bibel fehlerlos sei und überall vollkommen ist – so wie Gott vollkommen ist – „könne man sicher sein“, dass sie nicht nur Menschenwort sei. Denn nur wenn die Bibel fehlerlos sei,  könne sich der Gläubige darauf verlassen, dass die Auferstehung tatsächlich geschehen sei. Dieser Satz ist Unsinn. Ein Ereignis, das geschehen ist, wird nicht dadurch nichtexistent, wenn sich in einen Bericht, der sich auf  dieses Ereignis bezieht, Fehler eingeschlichen haben.

Wenn die Auferstehung nicht geschehen ist, dann ist der Glaube sinnlos. Dem kann jeder Christ zustimmen. Paulus sagt es zwar ausdrücklich (1.Kor 15,14) aber es leuchtet auch unmittelbar ein. Für das Ereignis der  Auferstehung  konnte Paulus auf  das Zeugnis von hunderten Augenzeugen zurückgreifen. (V.6)

Wenn man einen Menschen persönlich gut kennt – insbesondere seinen Charakter – und weiß dass er Lüge und leichtgläubiges Nachplappern verabscheut, dann hat sein Zeugnis erhebliches Gewicht. Dann genügt sogar ein Zeuge!  Wir haben für uns selbst keinen solchen Beweis. Wir kennen nicht einen einzigen Augenzeugen der biblischen Ereignisse persönlich und können uns auch keinen unmittelbaren Eindruck von seinem Charakter machen.

Wir haben nur einen schriftlichen Bericht, den wir lesen und der bei uns einen emotionalen Eindruck hinterlässt. Entweder wir fühlen uns zum Vertrauen ermutigt oder nicht.

Wenn wir uns entscheiden, diesem Bericht zu vertrauen, so liegt die Ursache ganz sicher nicht in einem gelungenen Beweis, dass die Bibel keine Fehler enthält. Ein solcher Beweis könnte ja direkt als Gottesbeweis dienen. Die Ursache dafür wird sehr wahrscheinlich in den drei genannten beobachtbaren Eigenschaften der Bibel zu finden sein: ihr überzeugendes Rettungskonzept, ihre diagnostische Kompetenz und ihre charakterverändernde Kraft. Diese Eigenschaften wirken in der Regel mit einer starken Überzeugungskraft auf Denken, auf das Gewissen und auf die Lebensgestaltung ein. Wenn umgekehrt diese Wirkung nicht stattfindet, kommt gar keine Überzeugung zustande.

Die Bibel selbst zeigt: lebendiger Glaube kann aufgrund weniger Schriftworte entstehen, die den Menschen persönlich betreffen und ihn vor die Entscheidung stellen, sein Leben Gott anzuvertrauen. Ich finde in der Bibel nirgends ein Beispiel dafür, dass ein Bekenntnis zur Unfehlbarkeit aller kanonischen Schriften Voraussetzung dieses persönlichen Glaubensschritts ist. Wenn durch einzelne Worte Gottes der heilige Geist in einer menschlichen Seele beginnt zu regieren, so wird eben dieser heilige Geist den Glauben bewahren, ohne dass es einer theologischen Doktrin bedarf.

In Apg 8 wird von einem äthiopischen Finanzminister berichtet, der Sehnsucht nach Gott hatte, deshalb die lange, beschwerliche Reise von Äthiopien nach Jerusalem machte. Als Heide wurde er nicht in den Tempelbereich zugelassen. Was immer er machte oder glaubte, er blieb draußen. Schließlich kaufte er sich das Buch des Propheten Jesaja, das er nicht verstand. Erst als Philippus ihm von Jesus erzählte (dessen Reden und Berichte noch nicht in Schriftform fertig vorlagen) und anhand Jes 53 erläuterte, dass der Prophet vom stellvertretenden Sühnopfer Jesu sprach, konnte der Kämmerer die Entscheidung für ein Leben mit Jesus treffen. Die Liste der Glaubensvorbilder in Hebr 11 zeigt uns ebenfalls, dass sich die Glaubensprüfung an bestimmten persönlichen Aufträgen oder Zusagen Gottes festmacht – und nicht an einem Lippenbekenntnis zur Unfehlbarkeit des Kanons.

Martin Luther besaß einen unerschütterlichen starken Glauben, doch er hielt 4 Bücher des heutigen Kanons für apokryph, d.h. fehlerhaft. (Luthers Bibelverständnis)

Wenn der Gläubige an die Fehlerlosigkeit der Bibel glaubt, so glaubt er damit im wesentlichen einer nicht-biblischen Urkunde, nämlich einem Text der „Chicago-Erklärung“, der nicht von den Autoren der Bibel, sondern von (fehlbaren?) Theologen verfasst und beschlossen worden ist. Ist „beschlossen“ dasselbe wie „bewiesen“? Eben das ist und bleibt die Frage: sind die dort präsentierten Argumente für die Fehlerlosigkeit der Bibel widerlegbar oder nicht? 

Mit einem Glauben an historische beobachtbare Ereignisse, der durch glaubwürdige Zeugen bekräftigt werden könnte – wie etwa bei der Auferstehung – haben wir es hier nicht zu tun.

 

 

2: Wer die Fehlerlosigkeit der Bibel behauptet, verstößt vorsätzlich gegen den Grundgedanken der Evangelisten als ehrliche Augenzeugen zu berichten

Wenn behauptet wird, die Bibel sei „fehlerlos“, so genügt ein einziges gesichertes Gegenbeispiel, das man heute findet, um die Behauptung zu widerlegen. Wir selber könnten Augenzeugen sein und auch heute noch nach bestem Wissen und Gewissen bezeugen, ob die Bibel bei uns tatsächlich den Eindruck von Fehlerlosigkeit macht.

Das Seltsame ist nun, dass die Vertreter der Fehlerlosigkeit keine ehrliche Augenzeugenschaft zulassen. Sie bevormunden den Zeugen und schreiben ihm vor, dass er bezeugen „müsse“, dass Dinge, die wie Fehler oder Mängel aussehen, keine Fehler oder Mängel seien. Mit diesem Verhalten bringe der Gläubige Gott „Vertrauen“ entgegen.

Die Vertreter der Fehlerlosigkeit stellen also neben die Behauptung der Auferstehung, die historisch gut bezeugt ist, eine weitere Behauptung, die Fehlerlosigkeit, die heute sorgfältig untersucht werden könnte, aber nicht umfassend untersucht werden darf (der „kleine Rest“ inhaltlich monströser ethischer Problemstellen sei angeblich zu ignorieren) – und behaupten, dass erst die Behauptung der Fehlerlosigkeit den Glauben sicherer mache. Tatsächlich?

Vertrauen ist jedoch nicht das Problem. Jeder gläubige Christ glaubt, dass die Zeugen der Auferstehung Jesu ehrlich berichtet haben. Die Auferstehung gehört zu den fünf fundamentalen „Heilstatsachen“. Wer diese Annahmen in Frage stellt, ist kein Christ.

Wieso verlangt Gott darüber hinaus noch ein theologisches Lippenbekenntnis zu einem von Theologen verordneten Verzicht auf ehrliche Augenzeugenschaft? Gibt es wirklich keinen besseren Weg, Gott sein „Vertrauen“ zu zeigen?

Kommt durch dieses Verfahren wirkliche Überzeugung und wirklicher Glaube zustande oder nicht vielmehr ein ständiges Schwanken zwischen Gewissheit und Verunsicherung, zwischen Manipulation und Unvoreingenommenheit, zwischen Wissensdurst und Ignoranz, ein Schwanken, das man nur in Griff bekommen kann durch rigorose Abschottung von allen Mitchristen, die diesen Weg nicht nachvollziehen können? Führt dieser Weg wirklich zu gesundem, starkem Glauben?

Die Apostel beriefen sich immer wieder auf ihre Glaubwürdigkeit infolge ehrlicher Augenzeugenschaft: „Das ewige Leben ist uns erschienen und das, was wir davon mit eigenen Augen gesehen und beobachtet haben, das was wir mit unseren Händen betasten konnten, das bezeugen und verkündigen wir euch….“ (1.Jo 1,1)

Wenn dem Gläubigen heute dasselbe Recht ehrlicher Augenzeugenschaft zusteht, wie es die Menschen damals zu biblischen Zeiten hatten, warum muss man sie dann heute bevormunden und ihnen vorschreiben, dass sie über Destruktives, das sie in der Bibel mit eigenen Augen sehen, nicht angemessen berichten dürfen?

Geht der Glaube wirklich durch ehrliches Fragen und Urteilen kaputt? Das zu glauben, ist doch nun wirklich ein Armutszeugnis. Gott liebt Wahrhaftigkeit (2.Joh 1,1 + 3 + 4). Eine religiöse Weltanschauung kann sich als Irrtum erweisen – den Glauben aber werden die Pforten der Hölle nicht überwinden (Mt 16,18). Denn es ist Gott selbst, der über dem Glauben seiner Freunde wacht. (Luk 22,32 / 2.Thess 3,3) Oder wacht Gott so ungenügend und unzuverlässig, dass wir unser Vertrauen lieber auf den Verzicht auf ehrliche Augenzeugenschaft setzen sollten, den uns fürsorgliche Theologen verordnen wollen?

Ihr größtes Argument ist der Satz: „Wenn nicht alles in der Bibel irrtumslos ist, dann könnte man nicht wissen, was Gotteswort und was Menschenwort ist“. Und dieser Satz ist der Bibel fremd. Er ist ganz und gar eine philosophische Konstruktion. Unvollkommene Theologen behaupten, von der Vollkommenheit Gottes  so viel verstanden zu haben, dass sie daraus einen logischen Schluss ziehen können.

Wenn sie selbst mal beginnen würden, die Bibel sorgfältiger zu lesen, dann würden sie feststellen, dass ihre Philosophie im Widerspruch zur Schrift steht, im Widerspruch zur Verheißung, dass der Geist Gottes ALLE Gläubigen „in alle Wahrheit leitet“ (Joh 16,13), dass er ihnen ALLEN den „Sinn Christi“ schenkt, der ihnen die ganze Schrift erschließt (1.Kor 2,16). Wie kann es geschehen, dass  Theologen sich „bibeltreu“ nennen und zugleich bezweifeln, dass den Gläubigen heute derselbe heilige Geist geschenkt wird (Apg 10,44 ff), wie ihn die Apostel damals empfingen? Haben sie nie gelesen, dass der Apostel Paulus ausdrücklich feststellte, dass es das Ziel Gottes sei, jeden Gläubigen mit der ganzen Fülle des Geistes auszustatten (Eph 1,17-20 ! / 3, 16-20 !) ?

Ist nun Leitung durch den Geist Christi nun Einbildung oder Wirklichkeit? Die Chicago-Theologen tun so, als ob der Gläubige mutterseelenallein und gottverlassen im Weltall sei, als ob der Glaube nur in einer emotionalen Reaktion auf die ihm verbliebenen schriftlichen Überreste bestünde.

Lebendiger Glaube verbindet sich jedoch mit einem lebendigen Gott, der heute noch Klarheit gibt und das Leben lenkt. Gründliches, widerspruchsfreies Nachdenken verbunden mit geistlicher Disziplin kann zu gravierenden und beunruhigenden Änderungen in der Beurteilung von Bibelworten und in der Glaubenspraxis führen. (Apg 10 / Apg 15) Aber der Glaube wird dadurch stärker. Wer sich um Wahrhaftigkeit bemüht, ist immer auf dem richtigen Weg.

Wenn Theologen dem Gläubigen erlauben, sich ohne Bevormundung ein selbständiges Urteil auf der Grundlage eigener Beobachtungen zu bilden, so wird jeder Gläubige sehr schnell erkennen, dass biblische Aussagen keineswegs gleichwertig sind, sondern dass sie sich vielmehr drei Hauptgruppen zuordnen lassen: 1. Gruppe: die eindeutigen, unmittelbar überzeugenden Aussagen der Bibel (widerspruchsfreies Rettungskonzept), 2. Gruppe: vorläufige, d.h. verbesserungswürdige Texte (Schatten-Texte), 3. Gruppe: scheinbar funktionslose Texte, die der Übung des Urteilsvermögens dienen (No-Comment-Texte). Zur dritten Gruppe gehören auch ethisch problematische Bibelstellen, die das Missverständnis exzessiver Unbarmherzigkeit und willkürlicher Grausamkeit des göttlichen Charakters nahelegen.  Auch Bibelstellen im Neuen Testament, die das werkgerechte Missverstehen („giftige Theologie„) zu empfehlen scheinen und die tröstliche Wirkung der Zusagen Gottes erheblich abbremsen oder gar die Heilsgewissheit wieder auflösen können, sind hier zu nennen. 

Wenn man derartige oder ähnliche Aussagen in den Heiligen Schriften anderer Religionen fände, etwa im Koran, würde man sie sofort – und zu Recht! – kritisieren. Aber weil sie in der Bibel stehen, soll Kritik plötzlich tabu sein! Wie glaubwürdig ist das?

Nur indem man diese Stellen ignoriert, indem man so tut, als ob es sie nicht gäbe, indem man behauptet, es genüge völlig, harmlosere Widersprüche zu bearbeiten, lässt sich der Eindruck vermitteln, dass Irrtumslosigkeit doch irgendwie plausibel sein könnte.

Der Gewinn an „Sicherheit“ ist deshalb begrenzt. Auch die Police einer Versicherung, deren unfaire Bestimmungen man nicht gelesen hat und die de facto wertlos ist, liefert ein gewisses Sicherheitsgefühl.

Sind nun beruhigende Gefühle entscheidend für den Zuwachs an Sicherheit oder das sorgfältige Prüfen der Details?

Wenn Vertreter der Irrtumslosigkeitsdoktrin über Widersprüche in der Bibel sprechen, dann werden diese ethischen Problemstellen ausgeblendet und verdrängt. Man reagiert sehr negativ, wenn Gläubige hier nicht mitmachen können, sondern Fragen stellen wollen.

Das ist sehr naiv, denn ethische relevante Punkte stellen das eigentliche Problem dar.

Man muss Kindern nicht alles Schlimme erzählen – ein bewährter pädagogischer Grundsatz.

Sicherlich ist er auch bei geistig behinderten Glaubensgeschwistern angebracht. Ihnen wird die Bibel in vorab gereinigter Form präsentiert (Kinderbibel). An ihnen ist zu sehen, dass Gott jedem einen vollwertigen Zugang zum Glauben schenkt – und dass er dazu Theologie nicht braucht.

Aber erwachsene Gläubige kann man nicht hindern alles zu lesen. Die Bibel fordert sie ja zu fleißigem und gründlichem Bibelstudium auf (Ps 119). Jeder gründliche Bibelleser wird immer wieder auf solche Stellen stoßen. Wer alles liest und bedenkt, muss wissen, wie man richtig und konstruktiv mit problematischen Bibelstellen umgeht. Deswegen sollen, „Gläubige nicht wie Kinder, sondern wie Erwachsene denken“ lernen (1.Kor 14,20) Das meinte jedenfalls der Apostel Paulus.

Auch auf einer theologischen Ausbildungsstelle, auf einer Hochschule mit wissenschaftlichem Anspruch sollte man wie ein erwachsener Mensch denken dürfen – insbesondere wenn Nebenwirkungen des Schriftverständnisses zu beachten sind.

Wird der Glaube nicht durch diese Stellen beunruhigt, so liefert die Irrtumslosigkeitsdoktrin dem Gläubigen Sicherheitsgefühle – ohne gedanklichen Aufwand.

Wird der Glaube bereits gestört oder ist noch gar nicht vorhanden, so wirkt die Irrtumslosigkeitsdoktrin nicht hilfreich, sondern eher schädlich.

 

 

3: Wer die Fehlerlosigkeit der Bibel behauptet, macht sich mitschuldig an Glaubenskrisen, psychischer Schädigung und Glaubensverlust


Da 
die Irrtumslosigkeitsdoktrin auch äußerst destruktive Problemstellen als „irrtumslos“, „vollkommen“ und „vorbildlich“ aufwertet und auch nicht den kleinsten Zweifel an ihnen erlaubt, können sie einen so negativen Einfluss auf die Gottesvorstellung bekommen, dass selbst gutwillige Gläubige angesichts der exzessiven Drohungen in der Bibel jedes Vertrauen in einen barmherzigen Gottes verlieren. Die Beantwortung der Frage, wie ist Gott, gut oder ambivalent, zugleich gut und bösartig, können manche Gläubige nicht auf später verschieben, da sie für das Vertrauen in Gott und die Beziehung zu Ihm hier und jetzt Bedeutung hat.

Da die Irrtumslosigkeitsdoktrin eine kritische Beurteilung destruktiver Bibelstellen nicht zulässt, sondern sich immer auf die stereotype Behauptung zurückzieht: „all das war (wenigstens früher) das einzig Richtige und Mögliche und unverzichtbarer Teil der Heilsgeschichte“, kann sie sich mit der seelischen Not der betroffenen Mitchristen nicht ernsthaft befassen. Die Seelsorge beschränkt sich auf den Appell, doch das Bedrohliche zu verdrängen und sich an das Positive in der Bibel zu klammern. Die Not der Geschwister, die nicht verdrängen können, müssen die Seelsorger ausblenden, genauso wie sie auch die Problemstellen ignorieren. Schwerste seelische Schäden können die Folge sein!

Es fällt schwer in dieser Art „Seelsorge“ etwas anderes zu sehen als einen fortgesetzten, schweren, reuelosen Verstoß gegen das Gebot der brüderlichen Liebe (Rö 13,10) und gegen das Gebot der Barmherzigkeit mit den schwachen Glaubensgeschwistern (Rö 15,1).

Hier sehen wir, dass das Dogma der Irrtumslosigkeit nicht nur eine theoretische Streitfrage ist, auch nicht nur eine Streitfrage, die gründliche und sensible Bibelleser betrifft, sondern sehr praktische Auswirkungen auf das Miteinander aller Mitglieder in der Gemeinde hat.

Es ist traurig, wenn Gläubige trotz der Schädigung von Mitchristen, trotz der deutlich erkennbaren Erbärmlichkeit  buchstabenhöriger Seelsorge, trotz aller ins Auge fallenden Gegenbeweise die Verbesserungswürdigkeit problematischer Bibelstellen bestreiten und eisern weiter die alte Sicht vertreten, die sich doch so leicht widerlegen lässt. Es ist klar, dass es in dieser Frage nie Einheit und Frieden unter Gläubigen geben wird, denn es wird immer Gläubige geben, die sich weigern, wider besseres Wissen zu reden und es für würdelos und charakterlos halten.

Hier haben wir es mit einem „Glauben“ zu tun,  der die Gemeinde unausweichlich ständig spalten wird in zwei Parteien, die einander der Verführung und Unehrlichkeit verdächtigen.  Das strenge Spaltungsverbot in Gal 5, 20 (dort steht diese Sünde in einer Reihe mit den Sünden „Mord“ und „Götzendienst“) ändert daran nichts.

Kann es dann wirklich diese Art „Glaube“ sein, den Gott dem Gläubigen zumutet? Man darf daran zweifeln.

Die Chicago-Vertreter haben ihr Versprechen, der Glaubenssicherung zu dienen, nicht einlösen können. Sie haben eine unredliche Methode, die Verdrängung zur allgemeinen Pflicht des Gläubigen erklärt und den konstruktiven Zweifel  zur Sünde und damit die christlichen Gemeinden tief und unversöhnlich gespalten.Wer diese Lehre nicht bringt, den grüßet nicht“ (2.Joh 2,10) Damit haben sie die Möglichkeit nach Kräften erschwert, die in vielen Gemeinden übliche Seelsorge einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die Überprüfung der Seelsorge war für Martin Luther der wichtigste Anlass zum theologischen Neuanfang, zur Reformation und ist es auch noch heute. Dieser reformatorische Impuls wird durch die verordnete Blindheit im Keim erstickt – auch wenn es in bibeltreuen Gemeinden Mode ist, ständig von Erweckung und Reformation zu reden.

Wenn für den Glauben gelogen, taktiert, getrickst werden muss, so ist das der Glaubwürdigkeit alles andere als dienlich. „An den Früchten könnt ihr es erkennen…“ (Mt 16,7) Es ist kein Wunder, wenn die Unehrlichkeit auch das übrige Gemeindeleben durchsäuert. Man gewöhnt sich daran, bei Unrecht und Missbrauch in der Gemeinde wegzuschauen, anstatt es wie geboten – schiedsgerichtlich aufzuarbeiten. Dessen ist religiöser Missbrauch in evangelikalen Gemeinden bis heute ein flächendeckendes, weitverbreitetes Phänomen, und die Aufdeckung dieses Missbrauchs immer noch ein Tabu.

Nicht sehen wollen, was jeder ohne weiteres sehen kann – das ist ein klarer Verstoß gegen das Prinzip des ehrlichen Augenzeugen, auf dem der ganze christliche Glaube ruht (1.Kor 15,5-8 / 1.Joh 1,1). Am Ende fragt man sich: was mag das Motiv dieser Theologen sein ? Wirklich die „Liebe zur Wahrheit“ (2.Thess 2,10) ?

Unaufrichtigkeit ist ein schlechtes, unbrauchbares Zeugnis: es führt bei vielen Menschen zu dem Fehlschluss, dass zum Glauben Selbstbetrug gehört, ja das Glaube Selbstbetrug ist. So kommt es zum „Rückprall“: das Interesse für den Glauben erlischt, sodass man sich mit den Inhalten des Evangeliums gar nicht mehr befasst.

Der monopolistische Anspruch der Irrtumslosigkeitsdoktrin ist argumentativ ein Eigentor. Nicht wenige Menschen, die in ihrer Jugend damit indoktriniert wurden, ziehen den fatalen Umkehrschluss: alles Glück ist nur in der Welt zu finden, nicht in einer Bibel, die nur Menschenwort sein kann, weil die von Theologen formulierte Bedingung für das Gotteswort „jede Aussage der Bibel ausnahmslos perfekt und von höchster Qualität“ augenscheinlich nicht erfüllbar ist.

In solchen Fällen wirkt die Irrtumslosigkeitsdoktrin glaubenszerstörend.

Wie viele Gläubige, die sich anfangs durch die vorteilhaften Auswirkungen der Irrtumslosigkeitsdoktrin blenden ließen, so haben doch manche allmählich die Schwächen und Gefahren dieser Doktrin erkannt. Sie haben eine Zeit lang noch frustriert und wider besseres Wissen an ihr festgehalten, weil bisher einfach keine Alternative dazu bekannt war. Wer sie – ungeachtet der Bemühungen von Theologen, das Bekanntwerden der Alternative zu verhindern – doch kennenlernt, der weiß, dass es einen Weg gibt, am Vertrauen in die Heilige Schrift festzuhalten ohne das Dogma der Irrtumslosigkeit..

Das prioritätenorientierte Inspirationsmodell (Bibeltreues Update 2.0) ist ein solcher Weg, der ebenfalls  Distanz zu glaubenszerstörender Bibelkritik bewahrt – sogar auf viel effizientere und gründlichere Weise.

Angesichts dieser bedenkenswürdigen Fakten bieten die fünf Grundsätze der geistlichen Disziplin, die der fundamentalen Aussage über Inspiration in 2.Tim 3,16 entnommen werden können,  einen weitaus effizienteren Schutz! Es darf geprüft werden. „Der geistliche Mensch beurteilt ALLES.“ (1.Kor 2,16)

Deswegen kann es eine Pflicht zur gedankenlosen Übernahme der Irrtumslosigkeitslehre nicht geben, auch wenn viele Gläubige ihr denselben Rang der Unfehlbarkeit geben wie der Heiligen Schrift selbst.

 

Artikel aktualisiert am 24.01.2022

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