Unverständige Bibeltreue

Von Wolf Rahn

Mit dem „Schwert des Geistes, dem Worte Gottes“ (Eph 6,17) wehren wir uns gegen Sünde, Tod und Teufel – und erleben Befreiung. Doch man kann ein scharfes Instrument leider auch im Unverstand benutzen und Unheil anrichten. Mit einem Skalpell kann man hilfreich operieren – man kann auch zerstören, verletzen. Ei­nigermaßen ahnungslos – was mögliche furchtbare Verletzungen betrifft – bin ich selbst früher mit dem Schwert des Wortes Gottes umgegangen. Gott hat dennoch Frucht ge­schenkt: Viele sind zum Glauben gekommen. Aber dann hat mich der Herr durch einzel­ne Tragödien in evangelikalen, bibeltreuen Gemeinden und meiner ei­ge­nen Familie zum Nachdenken gebracht.

Das Elend, die Angst der beschädigten Ge­schwister wird oft nur am Rande wahrgenommen. Sie haben sich ja gewöhnlich, weil sie es nicht mehr aus­hiel­ten, aus den Gemeinden entfernt und waren so in manchen Augen einfach treulos, lande­ten womöglich in der Nervenklinik. Da lässt man sie dann in der Hand hoffentlich gläubi­ger Ärzte und arbeitet in der Verkündigung und Seelsorge wohlgemut in bibeltreuer aber unverständiger Weise weiter.

Manchmal hört man den Einwand: „Es handelt sich ja immer nur um Einzelne, um eine kleine, ge­setzlich gefährdete Minderheit in den Gemeinden“? Zugegeben, es sind nur wenige Men­schen, die in diese Angst hineingeraten, und man verliert sie zudem schnell aus dem Blickfeld, einmal durch langdauernden Auf­enthalt in der Psychiatrie, zum anderen aber auch deshalb, weil ihnen das Ge­mein­de­leben zur Qual werden muss, in dem sie sich wie Aussätzige unter Gesunden füh­len.

Ein verantwortlich denkender Hirte wird darüber nachdenken müssen, ob solche Katastrophen nicht vielleicht doch vermeidbar wären. Sollte es an Fehlern in der Lehre liegen, so ist ja auch die übrige Gemeinde gefährdet. Dass eine Total­ka­ta­stro­phe bei der Mehrzahl nicht eingetreten ist, beweist kei­neswegs, dass alles in bester Ord­nung ist. Viele können durchaus inzwischen in eine la­tente Depression hinein­ge­ra­ten sein, wo man zwar nicht direkt Angst vor der Hölle, aber doch fast ständig Angst vor dem Unsegen oder der Bestrafung Gottes hat.

De­pressive Vorgänge wer­den ohnehin selbst vom Betroffenen sehr schlecht als solche erkannt. Von außen ist natürlich noch viel weniger zu sehen. Der Unterschied der Emo­tion von einem Tag zum nächsten liegt sozusagen im Millimeterbereich. Erst wenn man direkt am Ab­grund steht und zum Ausgangspunkt zurückblickt, stellt man fest, dass man sich über die Jahre doch eine erhebliche Strecke fortbewegt hat. Und wenn man versucht, den Pro­zess umzukehren, so wird man u.U. feststellen, dass es auch jetzt von Tag zu Tag nur millimeterweise vorangeht, und man sehr viel Zeit für die Gesundung braucht.

Es ist also nicht nur um der wenigen willen, die völlig ruiniert werden, angebracht, über Maß­nahmen der zuverlässigen Vorbeugung nachzudenken, sondern auch um der üb­ri­gen Ge­meinde willen, deren Glaubensfreude auf lange Sicht er­heb­lich beein­trächtigt werden kann.

Dem Herrn Jesus geht es um jeden Einzelnen. Und bei den durch gesetzliche Bibellehre Verletzten handelt es sich oft um die be­son­ders Sensiblen, zur ganzen, liebevollen Hingabe Bereiten, besonders Gewissenhaf­ten, die für jede Gemeinde ein Geschenk sind. Wenn die Verkündigung in den Ge­meinden auch nur Einzelne beschädigt, dann muss sie insgesamt untersucht und ver­bes­sert werden.

Wo­möglich wird mir nun vorgehalten, was Paulus an Timotheus schreibt: „Lass dich nicht auf die kindischen und törichten Untersuchungen (oder Streitfragen) ein. Du weißt ja, dass sie nur Streitigkeiten hervorrufen.“(2.Tim 2,23). Eine überflüssige Untersuchung ist das nicht. Ich möchte noch Schlim­meres als Streitigkeiten vermeiden: Abstürze in die Nervenklinik – mit sog. ecclesio­ge­nen Neuro­sen…

Wer seine „Vernunft unter die Herrschaft Jesu stellt“ (2.Kor 10,5), der kann an­ge­mes­sen unterscheiden und prüfen. Der „Sklave“ Vernunft arbeitet dann fleißig und zu­ver­läs­sig nach dem Wil­len des Herrn und ist unverzichtbar. Dabei „halten wir uns nicht selbst für klug“ (Rö 12,16), sondern wollen wie Paulus vor Festus reden (Apg 26,25): „wah­re, wohlüberlegte, ver­nünftige Worte“ (Luther) – AUS DEM GEIST JESU!

Gebote dürfen nicht knechten – sie müssen der Liebe dienen. Die Liebe ist das rettende Grundgesetz, das Hauptgebot und hat Vorrang vor allen Einzelvorschriften.  Unser Herr zitiert es in Mt 22,37 aus dem Alten Testament: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit deinem ganzen Her­zen und deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken!“ (Deu 6,5). Ein zwei­tes aber steht ihm gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie auch dich selbst.“ (Lev 19,18). „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,40), d.h. die ganze Heilige Schrift ist in diesem Sinne zu verstehen.

Der Herr spricht das gleiche in Mt 7,12 mit anderen Worten in der sog. Goldenen Re­gel aus: „Alles, was ihr von den Menschen erwartet, das erweist auch ihr ihnen ebenso. Denn darin besteht die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten.“ Unser Herr hat sich strikt nach diesem Grundgesetz verhalten – er ist ja die Liebe in Per­son – und ist gerecht. Wer Ihm darin folgt, ist vor Gesetzlichkeit bewahrt und kann – wie ich erlebt habe – auch wieder von ihr frei werden.

(nach Wolf Rahn – „Bibeltreue? Ja, aber mit Verstand!“)

Artikel aktualisiert am 25.04.2018

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