Gift Nr. 23


23. Behauptung: “Das Gewissen ist die unfehlbare Stimme Gottes”

Die These, dass das Gewissen die „Stimme Gottes“ repräsentiere und „objektiver Maßstab“ sei, geistert immer noch in etlichen Köpfen herum. Sie lässt sowohl durch die Bibel selbst als auch durch einfachste Erfahrung widerlegen.

Zunächst der biblische Beweis. Gott befahl Petrus, unreines, d.h. nach dem mosaischen Gesetz verbotenes Fleisch zu essen. Petrus weigerte sich, wie sich jeder fromme Jude aus Gewis­sensgründen geweigert hätte. Aber Gott antwortete ihm: „Was Gott gereinigt hat, das nenne du nicht verboten.“ (Apg 10,15) Das Gewissen des Petrus hat also nach Gottes ausdrück­lichem Befehl falsch reagiert.

Ein zweites Beispiel: manchen Gläubige verbot das Gewissen, Götzenopferfleisch zu essen. Paulus kommentiert: „Ich weiß und Jesus der Herr bestätigt es mir, dass uns keine Nahrung von Gott trennt, weil sie unrein ist, Wer aber etwas für unrein hält, für den ist es tatsächlich unrein.“ (Röm 14,14) Das Gewissen meldet also keinen objektiven Zustand „Vorsicht! Unrein!“, sondern das Handeln gegen das Gewissen macht immer unrein, egal ob es richtig oder falsch anzeigt. Das Gewissen aber kann durchaus durch überzeugende Argumente „umgeprägt“, neu orientiert werden. Überzeugende Argumente liefern sowohl Gott in der Vision, die er Petrus schenkte, als auch Paulus in seinem Brief.

Welche Funktionen hat das Gewissen? Das Gewissen ist ein vom Schöpfer der Seele einge­pflanzter Mechnismus, der gewöhnlich durch Erziehung, d.h. durch die Vermittlung der elter­lichen Normen „programmiert“ wird. Diese elterlichen Normen befinden sich auch i.d.R. im Einklang mit den Normen des sozialen Umfeldes, in dem die Familie lebt. Verstoß gegen die Normen löst Unwohlsein und Stress aus und den Wunsch, das Verhalten wieder den Normen anzunähern.

Solche Orientierungen brauchen oft nur den Bruchteil einer Sekunde. Indem der Mensch in moralischen Fragen instinktiv handeln kann, kann er sich zeitraubende Analysen sparen. Zu bedenken ist hier auch, dass Kinder solche Analysen z.T. noch gar nicht leisten können. Das ist also die erste Funk­tion des Gewissens: die Entlastung des Denkens.

Die andere Funktion ist die der Alarmsirene. Das Gewissen macht sehr starken Druck, wenn der Mensch ein Verhalten erwägt, das für die soziale Gemeinschaft, in die er eingebunden ist, völlig inakzeptabel ist: ein Tabubruch, eine Schändlichkeit oder gar ein Verbrechen.

Auch hier ist zu differenzieren. Es gibt Taten, die in jeder Kultur Verbrechen sind: z.B. Mord oder Diebstahl (innerhalb der eigenen Gruppe wenigstens). Bei Schändlichkeiten sieht es schon ganz anders aus. Das, was in einer Kultur schändlich ist, kann in einer anderen ganz harmlos sein. Dazu wieder ein Beispiel aus der Bibel: ein Mann in Israel, der sich weigerte, die Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten, handelte höchst ehrlos. Ihm durfte ins Gesicht gespuckt werden. (5.Mo 25,5-10) Zweifelsohne hat das Gewissen hier auch ent­sprechend reagiert. Heute ist das überhaupt keine Gewissensfrage mehr!

Warum nun ist das Handeln gegen das Gewissen schädlich? Das Gewissen wird gebildet durch einen Überzeugungsprozess, den in erster Linie die Eltern aber auch das soziale Umfeld mitverantworten zum Zwecke automatischer Orientierung. Gegen das Gewissen handeln, heißt daher gegen seine Überzeugung handeln, und das ist selbstzerstörerisch. Dafür ist der Mensch nicht geschaffen. Er soll ehrlich, konsequent und seiner Überzeugung treu bleiben.

Der frühere Überzeugungs­prozess kann jedoch de facto auf schlechten Argumenten beruhen, also Irrtümer enthalten. Deswegen ist es legitim, mit besseren Argumenten eine stärkere Überzeugung zu bilden, die die frühere ablöst. Dann handelt der Mensch zwar anders, im Widerspruch zu dem, was er früher glaubte, aber wieder im Einklang mit seiner Überzeugung. „Ein jeder sei seiner Meinung gewiss!“ (Röm 14,5) Beispiele sind – wie gesagt – Petrus und Paulus!

Also ist das Gewissen ein von Gott geschaffenes Instrument der Seele, mehr nicht. Die Frage, wann dieses Instrument sinnvoll angewendet wird bzw. wie es bei Kindern zu „program­mieren“ ist, muss jeder Mensch selber glaubwürdig – in Überein­stimmung mit seinem aktu­ellen Wissensstand – beantworten.

Man braucht wirklich keine besondere Wissenschaft, um festzustellen, dass das Gewissen fast in beliebiger Weise programmiert werden kann. Wenn man über den eigenen Tellerrand hinausschaut, dann kann man die spezifische Prägung des Gewissens in verschiedenen Kulturen wahrnehmen. Solche Unterschiede gibt es zudem bereits innerhalb der eigenen christlichen Kultur. Einige über das biblisch Gebotene hinausgehende Vor­schriften, an denen sich selbstverständlich auch das entsprechend geeichte Gewissen orientiert, habe ich bereits genannt.

Ein weiteres besonders skuriles Beispiel einer Fehlprägung des Gewissens ist unter dem Punkt Kann weltliche Musik Besessenheit übertragen ? nachzulesen.

Halten wir fest: das Gewissen tut nicht mehr und nicht weniger, als Gehorsam entsprechend dem augenblicklichen Erkenntnisstand einzufordern. Seine Aufgabe ist, für die Übereinstimmung von Denken und Handeln zu sorgen. Das durch das Gewissen erzwungene Handeln aber kann falsch sein, wenn das Denken bereits fehlerhaft war.

Sehr merkwürdig: warum meldet sich das Gewissen sich nicht, obwohl die von der Bibel ausdrücklich gebotene Fürsorge für die Ausländer in etlichen “bibeltreuen” Gemeinden höchst mangelhaft oder gar nicht vorhanden ist? Warum meldet es sich nicht, wenn kein Gemeindeschiedsgericht – wie in Mt 18,17 befohlen – eingerichtet wird und Gläubige auf ihrem Schaden sitzen bleiben? Warum meldet es sich nicht, wenn man „evangelikalen Feminismus“ anstelle der biblischen Eheordnung als Richtschnur für die Ehen anzusehen beliebt?

Vom Gewissen zu unterscheiden ist das Schamgefühl. Das Schamgefühl ist ebenfalls kein Beweis für die Sündhaftigkeit des Verhaltens.

Auch der nach dem Maßstab der Bibel untadelige Geschlechtsverkehr wird nicht vor aller Augen auf der Terasse vollzogen – was das Schamgefühl verletzen würde! – sondern braucht einen geschützten Raum. Warum haben nicht wenige Eltern Mühe, ihre Kinder aufzuklären? Weil sexuelle Aufklärung überflüssig und schändlich ist? Warum stehen Porzellanklosetts nicht völlig frei in der Landschaft, sondern befinden sich stets in einem Toilettenhäuschen? Weil die Darmentleerung etwas Sündhaftes ist? Es existierte um die Zeit der Zeitenwende eine religiöse Gruppe, die sich aus religiösen Gründen bemühte, die Darmentleerung zu unterdrücken. Flavius Josephus schreibt über die Essäer, die strengste ordensartige Judensekte, dass sie den Sabbat noch strenger als alle anderen Juden beachten und es deshalb nicht einmal wagen, an diesem Tag ihre Notdurft zu verrichten

Wenn man einen Menschen als Gast hat, der völlig ausgehungert ist und der deshalb schlingt wie ein Scheunendrescher, dann guckt man ebenfalls nicht allzu sehr hin. Des weiteren entsteht Schamgefühl, wenn man sich bei der Erledigung einer beruflichen Aufgabe besonders dumm angestellt hat. Taktvolle Kollegen überspielen dann die peinliche Situation.

All diesen Ereignissen ist gemeinsam, dass sich der Mensch hier von seiner schwachen Seite zeigt, mit einfachen Bedürfnissen, die er mit den Tieren gemeinsam hat, oder anderen allzu­menschlichen Mängeln. Ein schwacher Mensch ist verwundbar. Boshafte Menschen nutzen deshalb solche Situationen. Zum Schutz vor ihnen ist dem Menschen das Schamgefühl gegeben.

Natürlich entsteht Schamgefühl auch anlässlich falschen Verhaltens, aber der Umkehrschluss ist falsch! Man kann sich durchaus auch für etwas schämen, was – sachlich gesehen – gar nicht schändlich oder falsch gewesen ist. Man kann sich sogar für seinen christlichen Glauben schämen, was man – objektiv gesehen – nicht tun sollte (Mark 8,38 / Rö 1,16).

Gewissen und Schamgefühle gehören quasi zur „Exekutive“ (zur ausführenden Gewalt) der Seele, nicht zur „Legislative“ (zur gesetzgebenden Gewalt). Sie sind gewissermaßen die Polizei der Seele. Die Polizei setzt die Gesetze durch. Sie wendet sie an. Aber sie macht die Gesetze nicht.

Das, was richtig ist und was falsch, wird von der Regierung bzw. der verfassungsgebenden Volksvertretung festgelegt. Als Regierung der Seele kann man die Erkenntnis des Menschen betrachten, seine Überzeugung. Um Überzeugung zu bilden, muss man gute Argumente bringen. Stehen zwei konkurrierende Gesetze zur Auswahl, zählt nur eines: für welches Gesetz die besseren Argumente sprechen. Überzeugende Argumente aber lassen sich besser der Bibel als der diffusen Gefühlswelt entnehmen.

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Artikel aktualisiert am 25.04.2018

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